© 2022 Anna Zhukovets
Essay
Über Schablonenvorstellungen: From East To West
Als der russländische Angriffskrieg auf die Ukraine enbrannt ist, reist Anna Zhukovets zurück in ihr Geburtsland – das Zuhause ihrer Familie. Nach dem ersten gescheiterten Versuch ihren Cousin aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland zu bringen, entschließt sie sich dazu, diesen persönlich zu treffen, um ihm ein wichtiges Dokument zu überreichen, welches seine Ausreise ermöglichen könnte. Als Journalistin und Regisseurin entschließt sie sich bei dieser Gelegenheit, die Reise zu dokumentieren. Dabei ist ein Dokumentarfilm über Männerrealitäten im Krieg entstanden. Einer der Protagonisten erzählt ihr von den Schablonenvorstellungen, die Ost- und Westukrainer gegenseitig voneinander haben. In ihnen stecken neben den Stereotypen auch Misstrauen und das Potenzial zum Denunziantentum. Auch Anna Zhukovets wird eine dieser Schablonen auferlegt.
von Anna Zhukovets
Oktober 2022
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„Du kannst aus Kyjiw kommen, Du kannst aus Mariupol kommen – das interessiert mich nicht. Die Menschen in Mariupol sind selbst schuld an dem, was dort passiert ist. Warum haben sie nicht protestiert? Sie hätten protestieren müssen, und nicht die Stadt dem Feind übergeben. Sie sind Prorussen“, hallt eine aggressive Stimme aus einem Tante-Emma-Laden am Hauptplatz, dem Stepan-Bandera-Platz, in der Stadt Skole. Der Ort liegt in der Westukraine.
„Haben Sie die geografische Lage von Mariupol gesehen? Wie können die Menschen an einem Ort protestieren, in dem sie nur von Feinden umgeben sind?“, antworte ich auf Russisch – die Sprache, die mich zur Verdächtigen macht. Die Frau ruft die Polizei. Mein Kameramann und ich werden abgeholt.
Gerade erleben wir eine Zeitenwende, die mit Menschenleben, Zerstörung und Auslöschung bezahlt wird. Die Menschen, die die letzten acht Jahre ihre Identität nicht hinterfragt haben, hinterfragen sie spätestens jetzt. Auch ich. Wer bin ich? Und wer sind wir: die Ukrainer?
Im Jahr 1997 bin ich in Mariupol geboren. Dann habe ich 2002 die Stadt über die jüdische Linie meines Vaters verlassen. Nicht der ukrainischen Sprache mächtig, weil in Mariupol mehrheitlich Russisch gesprochen wird. Ich habe ukrainische, belarussische, jüdische, polnische und auch russische Vorfahren.
In einem Kriegszustand könnte ich für die Frau vom Tante-Emma-Laden alles sein: Eine russische Saboteurin, die wichtige infrastrukturelle Orte dokumentiert und an die Feinde weiterleitet, eine ahnungslose Westeuropäerin, die Schaden anrichtet oder eine Prorussin. Schließlich beherrsche ich nur die Sprache des Aggressors.
Es gibt diese Schablonenvorstellungen, die oberflächlich menschliche Identitäten wiedergeben sollen, wie mir ein Psychiater und Frontarzt erzählt:
„Jemand, der um 6:00 Uhr am Morgen aufsteht, in der Stahlfabrik seine Zwölf-Stunden-Schicht abarbeitet, nach Hause kommt, hundert Gramm Wodka trinkt und sich ins Bett legt. So sind die Menschen in Mariupol. Ihr Leben in fünf Fakten. So ein Bild existiert in der Westukraine über den stereotypen Ostukrainer. Jemand, der immer wieder ins Ausland reist, um polnisches Geld zu verdienen, nach Lviv zurückkehrt, auf den Straßen lauthals ‚Ruhm Stepan Bandera‘ ruft, entspricht dem Klischee eines Westukrainers in der Ostukraine.
Für sein ‚Nationalbewusstsein‘ wird er dann als ‚ukrainischer Nazi‘ in russischen Filtrationslagern verfolgt. So argumentiert die faschistische russische Ideologie.“
Was diese Bilder wiedergeben? Ausschnitte einer verzerrten Wirklichkeit. Subjektiv-verallgemeinernde Perspektiven. Sie reduzieren den Menschen auf die einfachsten Attribute. Dabei gibt es auch Gegenbeispiele: Menschen, die zwar Ukrainisch sprechen und gleichzeitig nicht auf der Seite der Ukraine stehen.
Ein Gründungsmitglied von „Vitsche e.V.“, der Vereinigung junger Ukrainer in Deutschland, arbeitete bis 2021 für die russische Staatspropaganda RT (Russia Today) und wechselte dann 2022 die Seiten. Ein anderes Mitglied derselben Organisation behauptet vor dieser Enthüllung, dass ich keine richtige Ukrainerin sei. Der Grund: meine Biografie. Ich habe zu früh Mariupol verlassen, um mich als Ukrainerin bezeichnen zu dürfen. Ich bin Deutsche. Dass ich als Fünfjährige keine Entscheidungshoheit über mein Leben hatte, wurde dabei ausgeblendet.
Der ukrainische Polizeiwagen hält im kleinen örtlichen Polizeipräsidium. Mein Kameramann und ich steigen aus. Wir steigen die Treppen hinauf. Uns umgeben pastellfarbene, gelbe Wände. Ein Verhör: Name, Alter, Beruf, Dokumente, Hochschulbescheinigung, Drehgenehmigungen, Telefonnummern.
,,Zweck ihrer Reise?“
,,Ein Dokumentarfilm mit dem Namen ‚From East To West‘“, antworte ich.
Das Verhör dauert nicht lange. Als ich dem Polizisten meine Filmaufnahmen von Skole zeige, meine journalistischen Arbeiten und meinen Nachrichtenverkehr mit dem ukrainischen Kommandanten Serhiy „Volyna“ Volynsky erwidert er mir: „Danke für Ihre Arbeit. Schicken Sie mir einen Filmlink und filmen Sie ja nicht den Bahnhof.“
Ich sprach mit ihm auf Russisch. Er auf Ukrainisch. Er hat mich über seine Schablonenvorstellungen hinaus verstanden. Dieser Krieg hat mich gezwungen eine Lebensmission zu finden: in Dialoge zu treten, einen Dialog über Osteuropa zu schaffen – und sei es mittels von Filmen, die ich drehen werde.