KGR, Gera 2021, Galerie Sorglos

© Anke Becker, Ausstellungsansicht KUNST GEGEN RECHTS, Galerie Sorglos, Gera, 2021

Identität und Propaganda in Moldau

Impressionen aus Chișinău

Aktuell häufen sich die Befürchtungen vor einem Kriegsausbruch in Moldau und seiner abtrünnigen, unter russländischem Einfluss stehenden Region Transnistrien. Bericht von einer Recherchereise nach Moldau im Januar 2023 über Identitätsfragen und Propaganda: von der dortigen Medienlandschaft, dem Tauziehen zwischen pro-EU und pro-russischem Lager und den anhaltenden Protestwellen im Land.

Yelizaveta Landenberger
März 2023

 

 

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Als im Frühjahr und Sommer 2022 die russischen Truppen im Süden der Ukraine vorrückten, schien auch die Gefahr einer russischen Invasion in Moldau akut zu sein. In der abtrünnigen Region Transnistrien, die an die Ukraine grenzt, sind nach wie vor russische Soldaten stationiert. Sollten, so das schlimmstmögliche Szenario, die russischen Streitkräfte bis dorthin vordringen, wäre es für sie wohl ein Leichtes, ganz Moldau einzunehmen. Die moldauische Armee ist schlecht aufgestellt, verfügt über keinen einzigen Panzer – und die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung ist, beeinflusst durch jahrelange russische Propaganda-Kampagnen, prorussisch gefärbt.

Januar 2023. Bei meiner Ankunft in der moldauischen Hauptstadt Chișinău sehe ich überall die Flaggen der Republik Moldau und der EU – seit Juni 2022 hat das kleine osteuropäische Land den EU-Beitrittskandidatenstatus. Etwas schockiert bin ich aber schon, dass ich an meinem ersten Tag in Moldau keiner einzigen Ukraine-Flagge begegne. Später entdecke ich sie dann doch, an spezifischen Orten: an den Fahnenstangen der Botschaften anderer Staaten und in der ukrainischen Bar Piana Vyshnia. Irgendwie hatte ich beinahe ein Jahr nach Beginn der Ausweitung des russischen Angriffskrieges ein ähnliches Straßenbild wie etwa in Polen erwartet: die Straßen gepflastert mit Zeichen der Solidarität, ukrainischen Nationalfarben und Sprüchen à la “russisches Kriegsschiff, fick dich!” Doch davon ist keine Spur. Wie kann das sein? Immerhin grenzt Moldau an die Ukraine und der kleine Binnenstaat mit seinen 2,6 Millionen Einwohner*innen hat pro Kopf die höchste Anzahl an ukrainischen Geflüchteten überhaupt aufgenommen.

Turist-Hotel Chișinău, 1971 eröffnet.

Turist-Hotel Chișinău, 1971 eröffnet. Architekt: R. Bekesewitsch. In den 80ern fügte der Künstler Pavel Guţu auf eine der Wände das Sgraffito mit dem Titel Moldau hinzu, das alte und neuere architektonische Schichten Moldaus darstellt und vermischt.

Es kommt mir der Gedanke, dass die seltenen Ukraineflaggen wohl auf die angespannte politische Lage im Land verweisen. Im Dezember 2022 machte der Chef des moldauischen Geheimdienstes, Alexandru Musteaţă, in einem Interview mit dem Sender TVR Moldova publik, dass er mit einer baldigen russischen Invasion rechne: “Die Frage ist nicht, ob die russische Föderation eine neue Offensive gegen das Territorium der Republik Moldau durchführen wird, sondern wann”, so seine drastischen Worte. Am 15. März dieses Jahres veröffentlichte ein internationales journalistisches Konsortium  (darunter das moldauische Investigativportal RISE Moldova) ein Dokument mit Plänen des Kremls, die Republik Moldau bis zum Jahr 2030 unter russische Kontrolle zu bringen. 

Der Krieg im Nachbarland ist in Moldau täglich spürbar. Den moldauischen Luftraum verletzende Geschosse oder gar einschlagende Raketenteile auf dem Territorium des Landes vergegenwärtigen die mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte, jedoch konstant vorhandene Furcht vor einer russischen Invasion. Doch neben diesem militärischen Schreckensszenario gibt es noch den Informationskrieg, der seit Jahren geführt wird und sich nun zuspitzt. Die vielen geflüchteten Menschen aus der Ukraine, die neu ins Land gekommen sind, werden dabei von russischen Desinformationskampagnen als Sozialschmarotzer dargestellt, erklärt mir die russischsprachige moldauische Journalistin Daria Slobodcicova vom Medium NewsMaker bei einem Gespräch. Viele der ukrainischen Geflüchteten kommen aus den nahegelegenen Städten Odesa und Mykolajiw sowie den umliegenden Regionen. Das sei auch der Grund dafür, wieso ich aktuell so viel russisch auf den Straßen Chișinăus höre – und nicht etwa, wie vielleicht zu erwarten wäre, Ukrainisch. Die Geflüchteten können in Moldau problemlos kommunizieren – denn de facto läuft die Alltagskommunikation bilingual ab, auch wenn Rumänisch alleinige Amtssprache ist. Mit Daria Slobodcicova rede ich vor allem über die russische Propaganda im Land. Für diese sei besonders die russischsprachige Bevölkerung anfällig – was natürlich nicht bedeute, betont sie, dass die rumänischsprachigen Bürger*innen dagegen immun seien. Moldau ist ökonomisch vom Krieg im Nachbarland besonders hart getroffen – die Inflation stieg im Sommer 2022 bis auf 34 Prozent. Viele Menschen seien wütend über die steigenden Preise, vor allem für Energie, sagt Daria Slobodcicova, und machen dafür die proeuropäische Politik Maia Sandus statt russland verantwortlich, obwohl die hohen Preise gerade durch die Energieabhängigkeit Moldaus von russland zu erklären seien. Den kürzlichen Lizenzentzug für sechs russischsprachige Kanäle sieht Daria Slobodcicova mitunter kritisch: Die Regierung habe zwar auf den ersten Blick russischsprachige Propaganda-Kanäle entfernt, andererseits habe man es versäumt, gute alternative Informationsquellen für die russischsprachige Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. So bekommen die Leute den Eindruck, man habe ihnen einfach etwas weggenommen. Außerdem können die Verbote leicht umgangen werden – mithilfe von Webseiten und Telegram-Kanälen können russische Propagandist*innen weiterhin Desinformation verbreiten.

Zu den von der prorussischen Șor-Partei organisierten Anti-Regierungs-Protesten, die seit  September 2022 regelmäßig stattfinden, werden Menschen aus entlegenen Gebieten der Republik in die Hauptstadt gefahren und bezahlt: Umgerechnet 20€ gibt es für die einfache Teilnahme, 80€ für das Übernachten in einem Zelt. Bei einem durchschnittlichen Monatsgehalt von etwa 500€ und einer Mindestrente von 100€ keine kleine Summe.

Während unseres abendlichen Gesprächs gehen wir in Kreisen durch den kleinen zentralen Kathedralen-Park vor dem Regierungsgebäude von Chișinău. Daria Slobodcicova entschuldigt sich immer wieder dafür, dass sie ans Handy muss: Content auf Social Media posten, Nachrichten beantworten. Sie ist engagiert, will etwas in ihrem Land verändern. Es sei schwierig für Journalist*innen in Moldau. NewsMaker versuche qualitativ hochwertigen Journalismus für die russischsprachige Bevölkerung zu produzieren und außerdem für einen mündigeren Umgang mit Medien zu sensibilisieren. Auf den Social Media-Kanälen von NewsMaker lassen sich zahlreiche kurze Erklärvideos, die Nachrichten des Tages in 60 Sekunden etwa, oder Reden Maia Sandus mit russischen Untertiteln finden. Mein Eindruck nach dem Gespräch ist, dass es einen tiefen Graben gibt zwischen der russisch- und der rumänischsprachigen Bevölkerung im Land und ich frage mich, wie er wohl überwunden werden kann.

Ein paar Tage später lerne ich dann in einer Bar im Stadtzentrum Chișinăus den rumänischsprachigen Dichter und Philosophen Alex Cosmescu kennen. Er erzählt mir, wie er im letzten Sommer, in einer Zeit voller Angst und Ungewissheit, die bewusste Entscheidung fällte, komme, was wolle, in seiner Geburtsstadt Chișinău zu bleiben. Davor sei er sich dessen nicht so wirklich sicher gewesen. Alex Cosmescu hat 2021 gemeinsam mit einer weiteren rumänischen Autorin eine rumänisch-moldauische Anthologie mit Dichter*innen der 2000er herausgegeben. Die rumänischsprachige Dichtung aus beiden Ländern sei inzwischen zu einem einzigen poetischen Kontext verschmolzen. Meine Frage, ob es eigentlich so etwas wie eine moldauische Identität gäbe, verneint er. Moldau als territoriale Einheit gibt es erst seit der sowjetischen Annexion Bessarabiens 1940. In sowjetischen Zeiten sei zwar eine moldauische Identität konstruiert und propagiert worden – so etwa auch die vermeintliche Eigenständigkeit einer mit kyrillischen Buchstaben geschriebenen rumänischen Sprache, des “Moldawischen” –. aber diese konnte sich nie so recht festigen. Es gebe zum einen die Tendenz der rumänischsprachigen Bevölkerung, sich eher Rumänien und zum anderen die Tendenz der russischsprachigen Bevölkerung, sich eher russland zugehörig zu fühlen, etwas Gemeinsames aber, das fehle. Er erzählt mir davon, dass viele russischsprachige Moldauer*innen sich für ihr schlechtes Rumänisch schämen. Mit russischsprachigen Freund*innen aus einer Tanzgruppe treffe er sich wöchentlich, um die Gedichte aus seiner Anthologie aus dem Rumänischen ins russische zu übersetzen und sie anschließend zu diskutieren – auf Rumänisch. Ich denke mir: Vielleicht ist dieser Lesekreis so etwas wie ein Mikrokosmos, in dem die zukünftige moldauische Identität bereits zu keimen beginnt. 

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Lektorat: Ralf Kretzschmar 
Die Recherche vor Ort für diesen Text wurde durch eine Förderung von n-ost ermöglicht.

Yelizaveta Landenberger (*1994 in Nowosibirsk) stu­dierte u. a. Phi­lo­so­phie, Jüdische Studien und Sla­wis­tik in Heidelberg, Berlin und Sankt Petersburg und arbeitet zur Zeit am Lehrstuhl für Ostslawische Literaturen und Kulturen der Humboldt-Universität zu Berlin sowie als Sprachassistentin am Goethe-Institut Ukraine. Daneben ist sie als Übersetzerin und Journalistin tätig, 2020/21 war sie Übersetzungs-Stipendiatin des Yiddish Book Centers Amherst MA und ist Teil des journalistischen Netzwerks n-ost. Ihre Beiträge sind u. a. bei dekoder, Merkur Blog, dem Philosophie Magazin und in der Jungle World erschienen.

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