© Sophia Hirsch, Kommunist
Kultur
Durak – Wer ist dieser Dummkopf?
Das Kartenspiel, das in vielen postsowjetischen Haushalten fest verankert ist und in ostdeutschen Durakopolen sein Revival feiert, verbindet. Post-Ost kann auch einfach Spaß machen – vorausgesetzt, es war nicht alles schlecht im Kartenstapel. Über Geschichte und Gegenwart des Dummkopfs und wo die Säge ans Stammtischbein anzulegen ist.
vom Durakverein
Januar 2025
>>
Das Kartenspiel Durak (dt. Dummkopf) gilt in der russischsprachigen Community und darüber hinaus als das bekannteste Spiel der Arbeiter:innenklasse. Während sich die Oberschicht im Russischen Reich mit Kartenspielen wie Poker, Bridge und Solitaire die Zeit vertrieben hat, haben die Bauern ihr ganz eigenes Kombinationsspiel entwickelt. Zu jener Zeit war „Durak“ eines der häufigsten Schimpfwörter. Das war auch das ganze Ziel des Spiels – die Dummköpfe zu verlassen. Ein Spiel bei dem es, anders als bei den Spielen der sich selbst zu ernst nehmenden Oberschicht, nicht um das Gewinnen geht. Selbsterhaltungstrieb und Überlebenskampf dieser Schicht spiegeln sich auch in der Dynamik jenes Spiels mit dem selbstironischen Ansatz wider.
War auch des alten Herrn Quartier…
Des Sonntags saßen Seine Gnaden
Am Fenster, setzten feierlich
Die Brille auf und ließen mich
Zu einem Spielchen Durak laden.
A. Puschkin
Versroman Eugen Onegin
И старый барин здесь живал;
Со мной, бывало, в воскресенье,
Здесь под окном, надев очки,
Играть изволил в дурачки.
А. Пушкин
Роман в стихах Евгений Онегин
Die ersten offiziellen Aufzeichnungen über dieses Spiel stammen aus dem zaristischen Russland. Durak wird zusammen mit anderen Kartenspielen im Ende des 18. Jahrhunderts in Russland veröffentlichten Buch „Расчетный карточный игрок“ (dt. „Der strategische Kartenspieler“) erwähnt. Das Buch fasst die Regeln zusammen, denn Durak war bereits unter Bauern und einfachen Leuten im gesamten russischen Reich beliebt. Doch auch der Dekabristenfreund und Dichter Alexander Pushkin gab in seinem bedeutenden Versepos „Eugen Onegin“ an, dass er mit seinem Nachbarn wöchentlich dazu bereit war, eine Runde Durak zu spielen. Es ist zwar nicht nachgewiesen, allerdings kann man davon ausgehen, dass auch diese Erwähnung zur steigenden Popularität des Spiels beigetragen hat.
Der Klügste von allen ist meiner Meinung nach derjenige, der sich mindestens einmal im Monat als Dummkopf bezeichnet – eine Fähigkeit, die es heute nicht mehr gibt! Früher wusste ein Dummkopf mindestens einmal im Jahr, dass er ein Dummkopf war, aber heute gibt es so etwas nicht mehr. Und sie haben alles so durcheinander gebracht, dass man einen Dummkopf nicht mehr von einem Klugen unterscheiden kann.
Fjodor Dostojewski – Bobok
Всех умней, по-моему, тот, кто хоть раз в месяц самого себя дураком назовет, — способность ныне неслыханная! Прежде, по крайности, дурак хоть раз в год знал про себя, что он дурак, ну а теперь ни-ни. И до того замешали дела, что дурака от умного не отличишь.
Фёдор Достоевский – Бобок
Die Oktoberrevolution sorgte dafür, dass Durak flächendeckend in allen Schichten ankam. In Zeiten des Sozialismus verbreitete sich das Spiel sowohl über die gesellschaftlichen als auch geografischen Grenzen in der gesamten Sowjetunion aus. Im 20. Jahrhundert wurde das Spiel in den (ehemaligen) Republiken der UdSSR zum beliebtesten Spiel und übertraf Préférence und Poker. Und obwohl nach der Revolution von 1917 ein Bergarbeiter gemeinsam mit einer Lehrerin, einem Chirurgen und einer Köchin mit Hilfe von Karten statt Diplomen auszuhandeln versuchten, wer an dem Tisch nun der Dummkopf sei, hat das Spiel doch nicht ganz sein altes Stigma eines seichten, einfachen Bauernspiels verloren, mit dem sich die Elitaristen den Geist nicht verderben lassen wollten.
Sollen sie uns Dummköpfe nennen, dafür essen wir umsonst
Der, der sich einen abrackert, ist wahrhaftig ein Dummkopf
Sektor Gaza – Duraki
Пусть зовут нас дураками, жрём зато за так
А кто пашет за станками — истинный дурак
Сектор Газa – Дураки
Dabei bietet dieses Spiel so viel mehr als nur das Potential des gesellschaftlichen Zusammenfindens und der Ablenkung. Der Durak entbehrt sich nicht nur eines Siegers, sondern auch eines festen Regelwerks. Ursprünglich wurde das Spiel nach recht vereinfachten Regeln gespielt – einfacher Durak. Später wurde das Spiel jedoch mit weiteren Regeln ergänzt, die flexibel Einzug in das Spielgeschehen finden können. Die unterschiedlichen Präferenzen das Spiel zu spielen bieten Raum für Diskussionen, in denen sich Spieler:innen in ihrer Kompromissfähigkeit üben können. Zu den Sonderregeln gehört zum Beispiel das Schieben und das Zuwerfen. So muss der Tisch vor dem Spiel aushandeln, nach welchen Regeln die Runde gespielt wird. Zugegeben klingt das in der Theorie viel romantischer, als es in der Umsetzung tatsächlich praktiziert wird, denn vertraute Regeln aufzugeben, bedeutet auch ein Scheitern zu riskieren. Intuitiv versuchen die von einer leistungsorientierten Gesellschaft geprägten Spieler:innen daher das Regelwerk zugunsten ihres eigenen Vorteils zu manipulieren. Nicht zuletzt bleibt sowohl der gelungene, als auch der misslungene Betrug sanktionsfrei, was die Demokratisierung des Scheiterns zusätzlich erschwert. Kommt auf die Tischregeln an!
Hier im Gulag, Bratan, geht die Zeit nicht um
Zocken Durak, Zigaretten gibt’s bei uns
Kleiner Bruder schreibt mir Brief, er kauft sich Vogue
Zocken Durak, Zigaretten gibt’s bei unsOlexesh – Durak
Als in den 80er und 90er Jahren die zwei größten Migrationswellen während und nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einer wachsenden Diaspora führten, verbreitete sich das Spiel mit der jungen Generation russischsprachiger Migrantenkinder auch auf den Schulhöfen der Bundesrepublik. Von da an erreichte das Spiel seit den 2000ern auch über die russischsprachige migrantische Community hinaus viele andere Jugendliche. So wird das Spiel mittlerweile auch in Shishabars und Eckkneipen gespielt. Es ist also kein Wunder, dass der Durak sich mittlerweile als popkulturelle Referenz im Deutschrap wiederfinden lässt.
Unabhängig vom Kartenspiel bist du auch im echten Leben ein Durak
Ikkimel – Eierreis
Nicht weit weg von seiner ursprünglichen, ablenkenden Funktion, hat sich Durak längst zu einem Spiegelbild der gesellschaftlichen Komplexität entwickelt. Die Dynamik des Spiels, in dem nicht nur das Streben nach individueller Überlegenheit, sondern das Scheitern und der Umgang mit diesem im Zentrum steht. Auch wenn der Titel „Durak“ beleidigen und demütigen soll, wird das Spiel doch gerade durch das kollektive Scheitern und die humorvolle Akzeptanz des eigenen „Dummkopfseins“ zu einem Akt der sozialen Inklusion. Es zeigt uns, dass in der Einfachheit oft eine tiefere Wahrheit verborgen liegt, und dass das Streben nach „Sieg“ nicht immer das wahre Ziel des Spiels ist.