© Sophia Hirsch: Bakelit
Politische Wende
Ein Jahr Regierung Tusk – Polens schwieriger Weg zurück zum Rechtsstaat
Im Herbst vergangenen Jahres gewann ein breites Wahlbündnis der Opposition die polnische Parlamentswahl und löste damit die ultrarechte Regierung der PiS-Partei ab. Was hat sich seitdem in Polen verändert?
von Alexander Michel
Januar 2025
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Im Oktober dieses Jahres erhielt die US-amerikanische Historikerin Anne Applebaum zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Schon kurz nach der Vergabe des Preises wurden Stimmen laut, die die Auszeichnung an Applebaum kritisch bewerteten – sei es doch ein Widerspruch in sich, dass jemand, der für Waffenlieferungen an die Ukraine plädiere und sich angesichts erstarkender autoritärer Regime auf der Welt für mehr Aufrüstung und eine wehrhafte demokratische Welt einsetzt, einen solchen Friedenspreis dem Namen nach verdiene. Unabhängig von dieser Debatte drückt die Preisvergabe auch einen deutlichen Wunsch nach einem Shift westlicher Außenpolitik und des Selbstverständnisses des Westens in der Welt aus: Im Angesicht russischer Aggressionen müssten nun andere Regeln gelten, die Zeit von Zugeständnissen und Appeasement in den letzten Jahrzehnten seien nicht nur erfolglos gewesen, sondern hätten den Spielraum für autokratischer Regime weiter vergrößert.
Interessanterweise lässt sich von der Vergabe des Friedenspreises an Anne Applebaum eine direkte Linie zur praktischen Politik ziehen. Applebaum ist verheirat mit Radosław Sikorski, der seit dem Wahlsieg der polnischen “Koalicja Obywatelska” im Oktober 2023 Außenminister des seither regierenden Kabinetts unter Premierminister Donald Tusk ist. Sikorskis Politik deckt sich dabei mit Applebaums Postulaten eines starken Westens: Im Juli 2024 bestätigte das polnische Außenministerium etwa die Erhöhung des Verteidigungsetats auf rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das kommende Jahr 2025. Dies würde Polen weiterhin an der Spitze der NATO-Länder mit den höchsten Militärausgaben relativ zum Bruttoinlandsprodukt halten – noch vor den USA.
Polens Zeitenwende
Das von Donald Tusk 2018 begründete Wahlbündnis schließt Tusks liberal-konservative Bürgerplattform (“Platforma Obywatelska”), die wirtschaftsliberale Partei Nowoczesna (“Moderne”) sowie die Grüne Partei (“Zieloni”) ein. Gemeinsam mit dem liberalen Wahlbündnis des Dritten Weges (“Trzecia Droga”) und den Linken (“Lewica”) gelang es der vereinten Opposition nach den Parlamentswahlen im Oktober 2023 eine Mehrheit im polnischen Parlament – dem Sejm – zu stellen und die seit 2015 regierende rechtskonservative PiS-Partei unter ihrem Vorsitzenden Jarosław Kaczyński abzulösen. Die Wahl ging mit einer beispiellosen Wählermobilisierung von knapp 75 Prozent einher, weshalb der gelungene politische Machtwechsel von Tusk selbst als “Wendepunkt in der Geschichte Polens” beschrieben und Parallelen zum Ende des Kommunismus 1989 gezogen wurden.
Ähnlich wie Olaf Scholz von einer Zeitenwende in der deutschen Politik sprach, so hätte auch Tusk von einer eigenen Wende in der polnischen Politik sprechen können. Denn mit dem Ende der PiS-Regierung eröffneten sich auf einmal lang vergessene und für tot geglaubte Optionen europäischer Kooperation: Etwa das Wiederaufleben des “Weimarer Dreiecks zwischen Frankreich, Deutschland und Polen und einer generellen Wiederannäherung Polens an die Europäische Union nach einer langen Zeit diplomatischer Spannungen gegenüber Brüssel. Fast könnte man meinen, dass Polen aus einem nationalkonservativen Koma erwacht ist – begleitet von einem kollektiven Aufstöhnen, dass der autoritäre und nationalistische PiS-Spuk der letzten Jahre endlich vorbei ist. Der Wechsel beweist auch, dass demokratische Abwahlen populistischer Regierungen selbst vor dem Hintergrund eines zugunsten einer regierenden Partei angeeigneten Staats- und Medienapparates noch möglich ist.
Staatlicher Rückbau mit Hindernissen
Tatsächlich steht die neue Regierung von Tusk seither vor beachtlichen Herausforderungen, um die demokratische Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederherzustellen und den von der Vorgängerregierung initiierten illiberalen Staatsumbau rückgängig zu machen. Der Umbau reichte tief: Er betrifft die Gleichschaltung der öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft, die Beschneidung von Frauen- und LGBTIQ-Rechten und nicht zuletzt den Abbau richterlicher Unabhängigkeit. Auch nach mehr als einem Jahr erweist sich die Regierungsarbeit als schwierig. Nicht nur, da sich die Regierung an geltendes Recht halten muss, um PiS-Reformen rückgängig zu machen – auch der derzeitige PiS-nahe Präsident Andrzej Duda kann mit seinem Vetorecht viele Gesetzesentwürfe der Regierung stoppen und dem Kabinett Tusk Steine in den Weg legen. Dudas Amtszeit endet im nächsten Jahr – mit einer Übernahme des Amtes durch einen Kandidaten der Bürgerkoalition könnten die angestrebten Reformen deutlich schneller umgesetzt werden. Seit kurzem ist bekannt, dass der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski für das liberale Lager ins Rennen geht, während die PiS ihre Karte auf den formell parteilosen und in der Bevölkerung unbekannten Historiker Karol Nawrocki setzt. Der Leiter des Institut für Nationales Gedenken gilt als Günstling der PiS-Partei. Nach einer umstrittenen Absetzung seines Vorgängers wurde Nawrocki 2018 Direktor des Danziger Weltkriegsmuseums und ließ die Ausstellung den nationalkonservativen Wunschvorstellungen der damals Regierenden umbauen.
Die PiS selbst bleibt auch außerhalb der Regierung aktiv: Sie präsentiert sich seit ihrer Abwahl als Opfer der neuen Regierung und spinnt am Narrativ einer dringend benötigten Opposition gegenüber einer aus ihrer Sicht immer härter gegen politische Gegner vorangehenden Regierung Tusk. Massenproteste mit über zehntausend Demonstrierenden zu Beginn des Jahres gegen die neue Regierung beweisen das immer noch enorme Mobilisierungspotential der PiS – und zugleich die fortwährende politische Spaltung Polens zwischen pro-europäischen Stimmen und nationalkonservativen EU-Skeptikern, welche sich durch einen einfachen Regierungswechsel nicht so einfach auflösen wird.
Mehr noch: Mit den Bildern demonstrierender Menschen in den Straßen polnischer Städte gegen den Regierungsapparat nährt die PiS von ihrer Seite aus Parallelen zu den Demonstrationen gegen das kommunistische Regime in den 1980er Jahren und inszeniert sich als Opfer politischer Willkür und Polen als Opfer eines ideologischen Staatsumbaus ganz im Sinne der Brüsseler Bürokratie. Schlagzeilen, wie die Verhaftung des ehemaligen PiS-Innenministers Mariusz Kamiński und seines früheren Staatssekretärs Maciej Wasik im Präsidentenpalast im Januar 2023 sind dabei willkommenes Futter zur Stärkung des PiS-Narrativs. Die Straftaten der beiden Männer liegen schon Jahre zurück. Damals arbeiteten die beiden in einer Behörde für Korruptionsbekämpfung und sollen in einem fingierten Korruptionsfall im Jahr 2007 die Diffamierung eines damaligen Regierungspartners der PiS zum Ziel gehabt haben. Kamiński und sein Mitarbeiter gingen in Berufung und bekleideten nach einer ersten Begnadigung durch Präsident Duda ab 2015 daraufhin hohe Posten im Staatsapparat. Nach einer erneuten Begnadigung durch den Präsidenten kurz nach deren Verhaftung im Januar 2023 kandidierten beide im Mai für das Europaparlament und konnten dort erfolgreich für ihre Partei einziehen. Seither setzte sich die polnische Justiz für die Aufhebung der Immunität der beiden Abgeordneten ein.
Ähnlich problematisch verhält es sich mit der Entlassung des Führungspersonals des öffentlich-rechtlichen Senders TVP durch die neue Regierung im Dezember 2023 aus. In ihrer Regierungszeit bauten die Nationalkonservativen den TV-Sender zu einem PiS-nahen Medienorgan um. Die prompte Entlassung der gesamten Führungsriege des Senders sowie der polnischen Presseagentur (PAP) durch Tusks Regierung ging einher mit der Besetzung des Sendergebäudes in Warschau durch Oppositionelle und einer Umzingelung des Senders durch Polizeikräfte. Die dabei produzierten Bilder und das harte Vorgehen machten es PiS-nahen Kräften leicht, den Umstand zu instrumentalisieren. So verurteilte der Tochtersender TVP World auf X die Vorgänge als illegitim und beschrieb diesen als “barbarischen Angriff auf die Redefreiheit”. Konservative Kommentatoren betonten zudem, dass der “quasi-diktatorische Coup der neuen Regierung” durch ein “dröhnendes Schweigen der normalerweise so lautstark den polnischen Rechtsstaats verurteilenden EU” begleitet werde.
Innere Streitigkeiten und Risiken des Scheiterns
Ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Regierung Tusk ist mit Sicherheit die Zügigkeit, mit der die Ziele der neuen Koalition umgesetzt werden können. Die Bilanz ist bis dato recht durchwachsen. Besonders deutlich zeigen sich die Hindernisse beim Thema Abtreibungsrechtsreform und Minderheitenrechte. Noch im Sommer forderten Stimmen aus der LGBTQI-Community eine Umsetzung entsprechender Liberalisierungen – etwa die Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Partnerschaften einzutragen, das Recht homosexueller Paare, sich gegenseitig zu beerben, gemeinsam die Steuern abzurechnen und im Krankheitsfall Informationen über den Gesundheitszustand des Partners zu bekommen. Die linke Gleichstellungsministerin Katarzyna Kotula forderte zudem ein Adoptionsrecht für Kinder, die in eine gleichgeschlechtliche Ehe gebracht werden. Letzteres Zugeständnis spaltete zuletzt die Koalition, da konservative Stimmen aus der Bauernpartei – Teil des Wahlbündnisses “Dritter Weg” – sich gegen den Entwurf der linken Ministerin stellten. Auch Präsident Duda sprach sich in der Vergangenheit mehrfach dagegen aus, entsprechende Gesetzesentwürfe zur Liberalisierung des von der PiS verschärften Abtreibungsrechts zu unterschreiben. Dessen Rückabwicklung wird sich voraussichtlich bis zur Präsidentenwahl im neuen Jahr als schwierig erweisen – bisher fehlgeschlagene Abstimmungen für einen Entwurf im Sejm beweisen die innere Zerrissenheit der Koalition zu diesem Thema. Das Abtreibungsrecht in Polen ist derzeit eines der strengsten in Europa: So ist ein Schwangerschaftsabbruch nur nach einer Vergewaltigung oder Inzest erlaubt – oder wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Selbst bei schweren Fehlbildungen ungeborener Kinder dürfen Frauen laut Gesetz keinen Abbruch vornehmen. Die Abtreibung selbst wird zwar nicht strafrechtlich geahndet – für dessen Beihilfe dazu drohen aber zu drei Jahre Gefängnis. Dies kann auch Ehemänner, Partner oder Verwandte treffen, die einer Schwangeren Tabletten zur Abtreibung besorgen. Die Regierung Tusk versprach im Wahlkampf eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes sowie eine Stärkung von Minderheitenrechten.
Der Politikwissenschaftler und Polen-Experte Klaus Bachmann geht davon aus, dass der Rückbau Polens in einen funktionierenden Rechtsstaats eine ähnliche Zeit in Anspruch nehmen könnte wie die Transformationsprozesse in den 1990er Jahren. Tusks Koalition steht in ihrer Regierungszeit ein großer Balanceakt bevor: Flankiert wird sie sowohl von einer lautstarken PiS-Opposition, die jede Handlung der Regierung auf die Goldwaage legt und von einem “Terror der Rechtsstaatlichkeit” spricht sowie einem engen Rechtsrahmen, der den Wiederaufbau des polnischen Rechtsstaates erschwert. Bachmann betont, dass selbst eine Abwahl Dudas keine Erleichterung bringe, da zentrale Organe wie das Verfassungstribunal für die nächsten Jahre mit PiS-Leuten besetzt bleiben.
Erwähnenswert sind nicht zuletzt auch stärker werdende rechtsextreme Kräften wie die Partei Konfederacja Wolność i Niepodległość (“Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit”): Diese erreichte in den letzten Umfragen zum ersten Mal überhaupt zweistellige Werte und könnte im Fahrwasser der Migrationskrise und fortwährenden Querelen zwischen dem Regierungslager und der PiS künftig Aufwind bekommen.
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Alexander Michel lebt in Wiesbaden und ist Historiker und Politologe mit postmigrantisch-polnischem Hintergrund. Er lebte eine Zeit lang in Polen und schreibt hin und wieder Texte für verschiedene Magazine – häufig zu Themen mit Bezug auf Osteuropa.