Der gestiefelte Schweinehund

© Ausstellungsansicht KUNST GEGEN RECHTS, Mieze Südlich, Gera, 2022

 

Schwedt – Die Stadt, der Krieg und die Krise

Die Zukunft der nordbrandenburgischen Industriestadt Schwedt wird von den wirtschaftspolitischen Folgen des Ukrainekrieges bestimmt. Die Auseinandersetzungen darum erzwingen einen Rückblick auf vergangene Krisen und einen Ausblick auf kommende.

von Marek Winter
März 2023

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Seit dem 1. Januar fließt kein Erdöl aus Russland mehr nach Deutschland. Damit endete vorerst eine Ära. Erdöl aus der UdSSR waren vor 1990 trotz des Kalten Krieges in beiden deutschen Staaten wichtig für die Energieversorgung. Nach 1990 spielten preiswertes Erdöl und Erdgas aus Russland eine zentrale Rolle für den Aufstieg der Bundesrepublik zur ökonomisch führenden Macht in Europa. Das Ende dieser Handelsbeziehungen ist eine Konsequenz, die die Bundesregierung aus dem russischen Überfall auf die Ukraine gezogen hat. Das Ölembargo soll dem russischen Staatshaushalt und damit der russischen Kriegsmaschinerie Mittel entziehen. Es soll an dieser Stelle nicht um die geopolitischen Konflikte rund um das deutsch-russische Öl- und Gasgeschäft gehen. Für eine Auseinandersetzung mit den innenpolitischen Aspekten des Ölembargos ist es jedoch wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Entscheidung dafür seitens der Bundesregierung sehr schnell, Anfang Mai 2022, und „freiwillig“ erfolgte. Der Vergleich mit der Auseinandersetzung um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Bundesregierung davon ausging, dass der Abschied vom russischen Öl im „nationalen Interesse“, d. h. Im Interesse des „Standortes“, also des „ideellen Gesamtkapitalisten“ Bundesrepublik Deutschland sei. Woraus erklärt sich dieses Interesse, angesichts des früh von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bezüglich des Embargos eingestandenen Umstandes „natürlich schaden wir uns damit selbst“? Die Vermutung liegt nahe, dass die Bundesregierung der Annahme folgt, dass auch unabhängig vom Krieg in der Ukraine unter ökonomischen wie ökologischen Gesichtspunkten ein baldiger Umstieg auf einen anderen Energieträger als Erdöl im Interesse der deutschen Wirtschaft liege.

 

Schwedt – Aufstieg und Fall einer Stadt

Einer der Orte, wo in konzentrierter Form die Folgen dieser außen- und industriepolitischen Entscheidung sichtbar werden ist die nordbrandenburgische Kleinstadt Schwedt. Diese verbindet mit dem postsowjetischen Raum mehr als eine Rohrleitung. Das moderne Schwedt ist, wie in dieser ausgeprägten Form sonst vielleicht nur noch Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda, eine realsozialistische Monostadt, eine Planstadt. Errichtet auf den Ruinen einer kriegszerstörten Ackerbürgerstadt für die Beschäftigten des Petrochemischen Kombinates (PCK), das ab 1963 das über die „Trasse der Freundschaft“ (Druschba-Pipeline) gelieferte Erdöl verarbeitete. Dieser Stadttyp ist in seiner typischen Form ein Resultat des Prozesses der nachholenden Entwicklung in der UdSSR und davon ausstrahlend im sonstigen Ostblock. Solche Städte entstanden in der UdSSR in der Regel im Rahmen der Errichtung großer Industriekombinate in Regionen, die keine industrielle Geschichte hatten, sei es im Rahmen der Erschließung von Rohstoffen oder der Verlagerung von Produktionsstätten infolge des Zweiten Weltkrieges. Nicht nur ihre faktische Existenz war durch den jeweiligen Industriebetrieb determiniert, eine solche Stadt war in ihrer ganzen Existenz auf das Werk ausgerichtet. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung war entweder in diesem Werk beschäftigt oder in der für die Beschäftigten nötigen Infrastruktur. Sozial- und Kulturleben waren auf den Takt des Werkes ausgerichtet und wurden durch dieses wiederum maßgeblich finanziert. Die Plan-Monostädte der DDR entstanden im Zuge der Industrialisierung zuvor agrarischer Regionen, des Wiederaufbaus nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und der Sicherstellung der Versorgung mit strategischen Gütern (Energie und Stahl). Im Bemühen um die Loyalität der Beschäftigten kam die Bevölkerung dieser Städte in den Genuss umfangreicher Sozialleistungen. Die Städte verfügten über große und gut ausgestattete Kultureinrichtungen, die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs wie mit Luxusgütern war besser als in anderen Regionen der DDR. Das Leben in einer derartigen Stadt hat am Beispiel Hoyerswerdas Grit Lemke in ihrem Buch „Kinder von Hoy“ plastisch beschrieben.

Wie auch Hoyerswerda erlebte Schwedt ab 1990 einen dramatischen Absturz. Arbeitslosigkeit, Verzweiflung und rechte Gewalt prägten die neunziger Jahre, 20 000 Einwohner:innen verließen die Stadt. In den frühen 2000er Jahren stabilisierte sich die Lage, die Raffinerie wurde modernisiert, die Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland im Energiesektor sicherte in einer der ärmsten Regionen Ostdeutschlands 1.200 relativ gut bezahlte Arbeitsplätze im PCK und etwa 2.000 in ausgegliederten Dienstleistungsbetrieben. Die Raffinerie blieb das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt. Der russische Ölkonzern Rosneft stieg in das Unternehmen ein und schickte sich Ende 2021 an, es ganz zu übernehmen. In diese Situation platzte die Nachricht vom Überfall Russlands auf die Ukraine.

 

Massen auf dem „Platz der Befreiung“ – Doch der Aufstand bleibt Rhetorik

Die mit Beginn des Krieges einsetzende Diskussion darüber, ob der Import von Erdöl aus Russland deutscherseits eingestellt werden sollte, wurde in Schwedt von Anfang an mit großer Besorgnis zur Kenntnis genommen. Diese steigerte sich in Teilen der Stadtbevölkerung zu Existenzangst, als die Bundesregierung dessen Ende ankündigte. Wenige Tage nach diesem Beschluss, am 9. Mai, fuhr Robert Habeck nach Schwedt, um den Beschäftigten des PCK bei einer Betriebsversammlung diesen Beschluss zu erklären. Dabei versicherte er, dass die Bundesregierung sich bemühe, die Arbeitsplätze der Beschäftigten zu retten und skizzierte einen Plan, nach dem das PCK übergangsweise über die Häfen Rostock und Gdansk mit Öl versorgt werden solle, um schließlich zu einer Fabrik zur Erzeugung von Wasserstoff umgewandelt werden. Dass sich der Bundeswirtschaftsminister selbst auf den Weg machte, um den Beschäftigten eines bedrohten Industriebetriebes in Ostdeutschland Mut zuzusprechen mag vor der Transformationsgeschichte dieser Region als merkwürdig erscheinen, ist aber, neben der strategischen Bedeutung des PCKs für die Energieversorgung Nordostdeutschland gerade durch diese zu erklären. Zum Zeitpunkt von Habecks Rede in Schwedt lagen hinter Ostdeutschland acht Jahre, in denen rechte Massenbewegungen die  Legislative und Exekutive vor sich her getrieben hatten und zur Etablierung einer rechtsradikalen Partei mit Massenbasis in Bundes- und Landesparlamenten geführt hatten. Diese Bewegungen, zuerst und vor allem die mit dem Namen PEGIDA verbundene rassistische Bewegung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und daran anschließend die sogenannte Querdenkerbewegung, waren die ersten erfolgreichen sozialen Massenbewegungen in Ostdeutschland nach der Vereinigung von BRD und DDR. Die sozialen Proteste gegen Betriebsschließungen und die Treuhand in den 1990er Jahren, wie die breite Protestbewegung gegen die Einführung der Hartz-Reformen 2004 endeten in dramatischen Niederlagen. Verarmung und soziale Desintegration waren die Folgen. Erst in Folge der Pegida-Bewegung, deren Anhänger:innen mit der Forderung „Integriert doch erst mal uns!“ Flüchtlingen Sozialleistungen streitig machten, und der Wahlerfolge der AfD wurden die ökonomischen und sozialen Kahlschlagmaßnahmen der Nachwendezeit und die Politik der Treuhand erstmals in einem gesamtdeutschem Rahmen diskutiert und über – zumeist symbolische –  Kompensationen für die Härten der Transformationsperiode nachgedacht. Es war die Angst vor dieser Bewegung, die Bundes- und Landesregierung dazu bewog, den Beschäftigten in Schwedt große Aufmerksamkeit zu widmen. Allerdings führte diese Aufmerksamkeit zu keiner Lösung, die Zukunft Schwedts blieb düster. Um die Interessen der Stadt zu vertreten gründeten lokale Intellektuelle, Künstler:innen, Unternehmen und Politikern das »Zukunftsbündnis Schwedt«, das am 29. Juni auf dem zentralen Platz der Befreiung eine Kundgebung für den Erhalt des PCK organisierte. Mit mehr als 2.000 Teilnehmern war es die größte Versammlung in der Stadt seit 30 Jahren. Erneut kam Habeck nach Schwedt, und stellte sich der Menge. Die Stimmung war aufgeheizt, das Misstrauen gegenüber der Politik groß, die Erinnerung an die 1990er Jahre fühlbar präsent. Gleichzeitig war die von Teilnehmer:innen der Kundgebung immer wieder artikulierte Befürchtung: „Wenn die das hier nicht in den Griff bekommen, dann wählt die ganze Region braun“ die einzige Drohung, das einzige Druckmittel, dass die Teilnehmer:innen der Kundgebung zur Vertretung ihrer Interessen in der Hand zu haben meinten. Den Moderator:innen vom „Zukunftsbündnis Schwedt“ gelang es geschickt, diese Stimmung einzufangen. So hatten sie verhindert, dass AfD, Verschwörungstheoretiker:innen, Neonazis und Reichsbürger, die unter den Kundgebungsteilnehmer:innen durchaus wahrnehmbar präsent waren, auch redeten oder Teil des Bündnis waren. Gleichzeitig bedienten sie eine kämpferische Rhetorik, „Wenn wir aufstehen, dann steht der ganze Osten auf!“, die nur vor dem Hintergrund von PEGIDA und Co. nicht hohl wirkte. Diese gut gemachte Instrumentalisierung der Drohung mit weiteren – rechten – Protesten ermöglichte die demokratische Integration der Wut der Schwedter Bevölkerung. Dass die Linke hier nicht mithalten kann, wurde wenige Monate später sichtbar, als am 1. Oktober die Linkspartei eine Kundgebung für den Erhalt des PCK veranstaltete auf der Gregor Gysi sprach. Die gewitzte Rhetorik und die scharfe Kritik des Altstars der Partei an der Bundesregierung verpuffte vor ein paar hundert Menschen, die alle das Rentenalter schon deutlich erreicht hatten. Ging von der Kundgebung des Bündnisses tatsächlich politischer Druck aus, hatte diese Veranstaltung eher therapeutisch-unterhaltenden Charakter.

 

Trübe Aussichten

Das PCK arbeitet heute mit geringer Auslastung weiter. Derzeit kommt über Rostock die Hälfte des benötigten Öls in Schwedt an. Mit Polen wird noch darum gerungen, unter welchen Bedingungen Öl über Gdansk geliefert werden kann. Die Bundesregierung garantiert für zwei Jahre die Arbeitsverhältnisse der PCK-Beschäftigten. Einige jüngere hoffen auf die Transformation zur Wasserstoffwirtschaft. Die Wut in der Stadt ist vorerst kanalisiert, eingehegt, aber auch in Resignation übergegangen. Doch das Potential dieser Wut, dass im Sommer 2022 zu spüren war, verweist auf die Konflikte, die in kommenden Krisen drohen. Die Hoffnung, dass der Übergang zu einer nachfossilen Wirtschaft ohne größere Verwerfungen erfolgt, dürfte trügerisch sein. Protestbewegungen, die dann keine andere Praxis entwickeln als von staatlichen Institutionen Zuteilung von Transferleistungen, Schutz und Unterstützung einzufordern, drohen die Wirkungsmacht der rechten Bewegungen der letzten 30 Jahre und damit ihre gesellschaftsprägende Rolle weiter zu verlängern.

 

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Marek Winter ist Autor und linker Aktivist. Er lebt und arbeitet in Potsdam.
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