© Moritz Jost Schnittstellen, Fotografiert im Kollwitzkiez 2004
Editorial
FAMILIE
die Redaktion
Dezember 2023
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Familie ist einer dieser Begriffe, die leicht gesagt, doch schwer umrissen sind. Familie bedeutet für uns alle in der Redaktion des Ostjournals etwas unterschiedliches. Familie haben alle von uns. Familiengeschichten auch – mit Aufs und Abs, Ecken und Kanten; und mit Brüchen, Epochen und verschiedenen Orten, die Zuhause sind oder einmal waren; an denen Familie stattfindet. Wahlfamilien sowieso. Und manchmal wird auch die Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Projekt wie dem Ostjournal recht familiär.
Das Wort Familie ist dem Lateinischen entlehnt. familia beschrieb den Hausstand oder Haushalt, in den auch Sklav:innen und ‚Gesinde‘ eingeschlossen waren. Zugrunde liegt das Wort famulus: Diener. „Familie“ hatte also seit seiner Entstehung etwas mit Wirtschaft(en) und Machtverhältnissen zu tun. Hausarbeit, Kindererziehung, Care Arbeit sind nicht von ungefähr weiterhin zentrale Schauplätze der Auseinandersetzung um Geschlechtergerechtigkeit in dieser Gesellschaft.
Unsere Redaktion ist davon nicht ausgenommen. Einige von uns zwischen Berlin und Leipzig haben (kleine) Kinder, übernehmen Sorgearbeit, und gestalten ihr Familienleben – teilweise alleinerziehend oder auch in größeren Netzwerken – in den Strukturen und Zwängen, die wir vorfinden. Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern ist der Kita-Betreuungsschlüssel fast doppelt so hoch, also deutlich schlechter, als im Westen. Das führt zu Kitaschließungen bei Personalausfall und Problemen, überhaupt einen Kitaplatz zu bekommen. Dies mag einen Anteil daran haben, dass die meisten Frauen*, deren Beiträge wir in dieser Ausgabe veröffentlichen wollten, den zusätzlichen Aufwand unbezahlter Textarbeit für das ehrenamtliche Projekt Ostjournal nicht bis Redaktionsschluss aufbringen konnten. Entgegen unseres Anspruchs und ursprünglicher Idee ist eine Ausgabe entstanden, deren Beiträge ostdeutsche Familiengeschichten vorwiegend aus männlicher Sicht verhandeln. Wir setzen uns weiter mit den Bedingungen des Schreibens für das Ostjournal und seinen genderspezifischen Arbeitsbelastungen auseinander und stellen uns die Aufgabe, das Ungleichgewicht in den nächsten Ausgaben zu stürzen.
Wir haben für diese Ausgabe keinen öffentlichen Call gestartet, sondern auf zum Teil seit langem geplante oder jahrelang in der Entstehung befindliche, sehr persönliche Beiträge aufbauen können:
Der Mauerfall steht heute auch symbolisch für die Wiedervereinigung deutsch-deutscher Familien. Und doch löste die neue Realität der Marktwirtschaft in einigen Familien Zerwürfnisse und Entfremdungen aus, die noch nach Jahrzehnten spürbar sind. Friedemann Wiese berichtet von Familienbrüchen in der Nachwendekrise.
Einen klaffenden Bruch zwischen Vater und Sohn, der nie wieder ganz heilte, hinterließ die Spitzeltätigkeit des prominenten Aktivisten der Bürgerbewegung und DDR-Oppositionellen Wolfgang Wolf. Sein Sohn Dietmar Wolf, damals selbst oppositionell aktiv, kehrt noch einmal zum Erleben des Vertrauensbruchs und der Enttäuschung über den leninschen Parteisoldat zurück.
Ein Weg, Opposition zur DDR-Führung auszudrücken, entwickelte sich ab den 70er Jahren in Form der Mail Art für den Frieden. Künstlerisch wurden Tabuthemen auf Postkarten gebracht und innerhalb der DDR aber auch ins Ausland verschickt und zirkuliert. Joachim Stange war für seine Postkartencollagen staatlicher Repression ausgesetzt. Eine Auswahl seiner Mail Art stellen wir hier vor.
„Wir haben sie doch zu nichts gezwungen“ – der Einsatz von Zwangsarbeiter:innen auf dörflichen Familienhöfen während des Nationalsozialismus ist bis heute kaum aufgearbeitet. Bei der Erforschung ihrer Familiengeschichte in einer brandenburgischen Kleinstadt deckt Anna Gabehlung achtzigjähriges Schweigen auf, sucht in Archiven nach den Spuren der Verschleppten und gibt Hinweise für eigene Recherchen.
Im thüringischen Suhl ist nicht viel übrig geblieben von der architektonischen DDR-Vergangenheit. Viele sind nach 1990 weg gezogen, die Plattenbauviertel im Norden der Stadt wurden und werden rückgebaut. Frederik Richthofen spricht in Suhl mit unofficial pictures, die in einem Zeitungsprojekt die Sicht der Einwohner:innen auf Geschichte und Gegenwart des Stadtteils festgehalten haben: Abriss, aus unserer Sicht.
Abriss oder Entmietung und Sanierung preisgegeben wurden ab 1990 auch viele Häuser in Ostberlin. Hunderte wurden instandbesetzt. Die Hausbesetzer:innen wollten Freiräume schaffen, mit neuen Formen des Zusammenlebens experimentieren und verstanden Wohnen als eine politische Frage. Über diese Kämpfe von der stillen Besetzung zur politischen Bewegung berichtet Dietmar Wolf im dritten Teil seiner Reihe zu Haus- und Wohnungsbesetzungen in der DDR.
Das heute wohl bekannteste und letzte besetzte Haus in Berlin ist die Köpi in Kreuzberg. Als kulturelles, politisches und soziales Zentrum besteht die Köpi seit über 30 Jahren. 2021 wurde der Köpi-Wagenplatz von der Berliner Polizei geräumt. Zecki verarbeitet die Köpi als Ort der persönlichen Wahlfamilie in Zeichnungen, die das Verlorene festhalten.
Brüche und Wirren der Nachwendezeit sowie das Ausbleiben der versprochenen blühenden Landschaften sind das Thema des Romans „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen. Es geht um Freundschaften, prekäre Arbeit und einen Todesfall. Roland Zschächner spricht in Leipzig mit dem Autor über Literatur und Ostdeutschland: „Der Osten ist vor allem sehr bunt“.
Dass die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen Ost und West nach wie vor sehr deutlich und wirkmächtig sind, wissen wir. Statistische Daten bringen das deutlich zum Ausdruck. Niclas Richter hat sich in die Zahlen gestürzt und zeichnet aufgrund der Datenlage statistisch wahrscheinliche Lebenswege nach: Zwei Leben im Schnitt.
Viel Beachtung fand Dirk Oschmanns Buch Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung, das sich ebenfalls den mehr als 30 Jahre nach Mauerfall fortbestehenden Ungleichheiten und der westlichen Erzählung über den Osten widmet. Eine dezidiert sozialistische, ostdeutsche Betrachtung bringt das Autorenkollektiv Ost in die Debatte ein: Was Oschmann nicht zu denken wagt, geschweige sich traut zu sagen. Wenngleich der Beitrag in der Redaktion kontrovers diskutiert wurde und nicht zwangsläufig die Meinungen des Ostjournals abbildet, möchten wir ihn hier als Kommentar zur Debatte veröffentlichen.
Die Fotografien der Reihe „Schnittstellen“ (2004) aus dem Ostberliner Kollwitzkiez von Moritz Jost bebildern diese Ausgabe.
Design und Layout der Ausgabe entstammen der Feder von Christin Haschke.
Wir als Redaktion danken allen Autor:innen für ihre Arbeit und Offenheit.
Viel Spaß beim Lesen, Hören und Sehen!
euer Ostjournal