„Day 5“ aus der Quarantäne-Serie, © Jördis Hirsch
TV-Miniserie „Ein Hauch von Amerika“
Flucht in den Osten
Mal andersherum. Die BRD im Jahr 1951, wo sich ein Liebespaar kennenlernt. Doch frei kann es dort nicht sein und flieht deswegen in die DDR. Wie das denn? Freiheit, ist das nicht eher das Synonym für Westeuropa und die USA? Eine Miniserie der ARD räumt damit auf.
von Angelika Nguyen
Mai:Juni 2022
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Anno 2021/22 spielt sich in der ARD-Mediathek eine kleine Sensation ab. Worum geht es? Ein fiktiver kleiner Ort im tiefsten Westen: Kaltenstein. Es ist sechs Jahre nach Kriegsende, als die deutsche Bevölkerung gerade anfängt, sich wieder aufzurichten, allerdings ohne sich besonders mit der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen.
„Entnazifizierung“ war das neue Zauberwort, Kommunismus der neue Feind. Ost- und Westdeutschland hießen DDR und BRD. Dank des Marshallplans begann in der BRD das Wirtschaftswunder bereits zu wirken. In einigen Ortschaften hatte die US-Armee Basen errichtet – wie in Kaltenstein. So ein kleiner Ort kann Zeitgeschichte abbilden wie durch ein Brennglas.
Weg aus Kaltenstein, um frei zu sein
Die Serie beginnt mit dem Satz: „Diese historische Miniserie enthält rassistische Sprache und andere Formen von Diskriminierung, welche die Lebenswirklichkeit zu Beginn der 1950er-Jahre widerspiegeln und heute immer noch existieren.“ Das lässt aufhorchen und macht neugierig. Geht es etwa um Themen, die in der Beschreibung der Wirtschaftswunderjahre bisher immer eher ausgespart wurden? Geht es, siehe Titel, etwa nicht nur um die Rolle der US-Armee als Befreier und Peppermint-Frieden-Bringer?
Am Anfang ist ein Rätsel. Die junge Marie läuft durch Kaltensteins Straßen und verabschiedet sich im Voiceover von ihrer besten Freundin Erika in einem Brief. Marie schreibt, sie wisse jetzt, was Freiheit sei, und dass sie von Kaltenstein fortgehen müsse, um genau das zu sein: frei.
„Kaltenstein ist kein Ort mehr für mich, kein Ort zum Leben, kein Ort zum Lieben.“ Das wirkt wie eine Ansage, wie eine Gegenposition zu jenem medialen Mainstream, der in all den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Mauerfall nicht müde wurde, den Westen als „Freie Welt“ zu vermitteln. Wie kommt ein junges Mädchen dazu, aus dieser „freien Welt“ wegzugehen – und wohin? Die Erklärung dazu liefern sechs Folgen zu jeweils 48 Minuten.
Rückblende. Ein Jahr zuvor. Die Hauptfiguren werden vorgestellt: zwei Familien. Eltern mit je zwei jung erwachsenen Kindern. Hier die arme Bauernfamilie Kastner von Marie, dort die reiche Unternehmerfamilie Strumm von Erika, deren Vater noch der Bürgermeister im Ort ist.
US-Territorium in Westdeutschland
Mehrere Spielräume werden für die Handlung eingerichtet: die Häuser der beiden Familien, verschiedene Bars (wichtiger Ort der Begegnung zwischen GIs und der Zivilbevölkerung), die Straßen von Kaltenstein. Und ganz wichtig: die Kaserne der US-Armee. Dort sorgen die „Black Codes“ für jene Ungleichheit per Gesetz, die in den USA seit Abschaffung der Sklaverei gegen Schwarze und alle anderen nichtweißen Menschen weiterwirkte.
Im ersten Teil gibt es eine – damals nicht untypische – Konfrontation. Auf dem kleinen Feld der Familie Kastner soll ein US-Militärhospital entstehen. Ein Panzer walzt die Kartoffelernte um, ein Hund explodiert. Da begegnen sich das erste Mal Marie und der GI George. Seine sensible Reaktion auf den Schaden ist ungewöhnlich, Marie sieht keine Spur Gleichgültigkeit, die sie sonst von den Besatzern kennt.
George kommt bewusst noch mal zurück, um sich zu entschuldigen. Im Arm hat er einen kleinen Hund. Entrüstet weist Marie ihn zurück. Sie will keinen neuen Hund, sondern das Land zurück oder Schadensersatz. Das bringt sie bis vor den Colonel – eine Bekanntschaft mit Folgen.
Parallel dazu taucht George wieder im Hause Kastner auf, mit solch kostbaren Sachen wie Dosenfleisch, Schnaps, Kaffee und Zigaretten. Sind Kontakte zwischen den US-Soldaten und Einheimischen schon von Nachbarn beargwöhnt, so schmälert sich die Akzeptanz hier noch mehr. Denn George ist ein Schwarzer GI. Seine Erscheinung überfordert so manche deutsche Bürger, die kurz zuvor noch Rassismus und Judenhass als Staatsraison kannten.
Die Möglichkeit, sich kennenzulernen
Aber Vorurteile und Fremdbilder können abgebaut werden, wenn sie nicht ideologisch verankert sind. So geht es Marie und ihrer ganzen Familie. Sie begegnen George anfangs nicht misstrauischer als jedem anderen GI. Damit ermöglichen sie sich und George, einander kennenzulernen. In diese kleine Welt der Sympathie bricht indes bald die feindliche Umwelt.
Nach zwölf Minuten Laufzeit kommt es zur ersten rassistischen Szene: In einem Wirtshaus treffen drei Schwarze Soldaten auf weiße – und dazu ranghöhere – US-Soldaten. Die drei Weißen beschweren sich, dass die Schwarzen bedient werden – und vergessen, dass sie sich auf deutschem Boden befinden, wo die „Black Codes“ (zu denen auch getrennte Gaststätten gehören) nicht gelten. Schwiete, der Wirt, schert sich nicht um den Einwand und bedient die Schwarzen demonstrativ weiter.
Parallel kostet Maries Freundin Erika die Gegenwart der (weißen) US-Soldaten als lebenshungriges und offenherziges Mädchen aus. Sie träumt davon, von einem Amerikaner geheiratet zu werden und in die Staaten zu gehen. Der zurückhaltenden Marie sagt sie, dass dies die Freiheit sei, die auch sie nutzen sollte.
In den Folgen danach entfaltet die Serie ihre Handlung. Erst scheint alles gutzugehen. Die Bürgermeister-Familie bekommt Bauaufträge von der US Army, Marie den Traumjob als Dienstmädchen im schicken Haus des Colonel McCoy und seiner Gattin Amy. Maries Bruder verkauft die geschenkten Zigaretten von George illegal in den Bars. Marie lernt Englisch, erst um sich über den zerstörten Acker zu beschweren, dann, um sich immer besser mit George zu verständigen.
Menschen zweiter Klasse per Gesetz
Parallel zu dieser scheinbar friedlichen Nachkriegswelt werden die rassistischen Angriffe insbesondere von dem sadistischen Sergeant Hoskins auf George und die anderen Schwarzen GIs als normaler Alltag erzählt. Wenn die Schwarzen Soldaten abends von ihren Ausflügen in die Kaserne zurückkehren, betreten sie eine andere Welt. Sie werden von freien Menschen wieder zu zweitklassigen Bürgern per Gesetz; die Weißen werden zu Machthabern, die sie bei jeder Gelegenheit erniedrigen.
Aber der sich anbahnenden Liebe zwischen George und Marie tut das keinen Abbruch. Marie hat nur ein Problem – und das ist nicht Georges Hautfarbe. Denn sie ist eigentlich mit Siegfried, dem Bruder Erikas, verlobt. Der wird seit sechs Jahren vermisst. Als Siegfried heimkehrt, stürzt Marie in einen schweren Konflikt. Sie muss sich nicht nur zwischen zwei Männern, sondern auch zwischen zwei Welten entscheiden.
Das erzählt die Serie sehr spannend, denn zunächst geht Marie den scheinbar leichteren Weg und entscheidet sich gegen George. Die vielleicht erschreckendste Szene der ganzen Serie ist die, als Marie George beim Abschied bewusst verletzt und ihm das N-Wort entgegenschleudert. Es ist, als wolle sie sich damit jeden Rückweg zu ihm verbauen. Leider ist seine Reaktion darauf nicht sehr deutlich. Später scheint er es sogar vergessen zu haben, was schwer zu glauben ist.
Am Beispiel des jungen Heimkehrers erzählt der Film die Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber der deutschen Schuld an Schoah und Vernichtungskrieg. Siegfried sieht sich nur als Opfer des russischen Gulags und fragt nicht, weshalb er da eigentlich hingekommen ist. Er ist ein überzeugter Nazi geblieben und wird so etwas wie eine tickende Zeitbombe.
Offener und versteckter Rassismus
Marie findet später den Mut, die Verlobung mit dem ungeliebten Siegfried zu lösen und sich zu George zu bekennen, den sie wenig später in der Base trifft. Die beiden kommen zusammen und sind sich jetzt ihrer Liebe sicher. Alles scheint ganz einfach zu sein.
Doch als Marie ihrer Arbeitgeberin glücklich davon erzählt, wird klar, dass auch Amy, die gebildete und gepflegte Kunstliebhaberin, Rassistin ist; zwar versteckter als Hoskins, aber nicht weniger gefährlich. „Du hast die Linie überschritten, die uns von ihnen trennt“, sagt sie entsetzt. Sie macht klar, dass Marie in den USA nicht mal zusammen mit George im Bus fahren dürfte, und dass es dort Gegenden gibt, wo man George dafür, dass er mit einem weißen Mädchen zusammen ist, erschießen würde.
„Es muss doch einen Ort geben, wo wir zusammenleben können!“, ruft Marie. Die Idee mit der DDR als Fluchtpunkt kommt von Amy, was später zu gefährlichen Verwicklungen führt. Für die findige Marie wird es zur einzigen Möglichkeit, um George zu retten. Denn er wird wegen einer von Erika und Siegfried ausgedachten Intrige festgenommen und mit der Todesstrafe bedroht.
Die Szenen vom sanften George, der blutig und verprügelt, mit geschwollenem Auge hinter Gittern steht und nicht versteht, was ihm vorgeworfen wird, sind schwer zu ertragen. Dabei ist jenseits der Kaserne ein Land, in dem er sich so frei bewegen konnte wie noch nie in seinem Leben, wie er einmal zu Marie sagt.
Ein Überlebender kämpft um Gerechtigkeit
Außer der doppelgesichtigen Situation der in Deutschland stationierten afroamerikanischen Soldaten bewegt noch ein anderes Thema den Film: die Schoah. Wie auch nicht. Liegt doch 1951 der Mord der Deutschen an Millionen Jüdinnen und Juden noch nicht so lange zurück.
Die vielleicht erschütterndste Szene ist denn auch eine Theateraufführung auf offener Straße, die Idee eines Clowns: Ein Mann mit jüdischem Gebetsschal und einer Thora-Rolle im Arm wird von einem Mann im SA-Kostüm durch den Ort getrieben, wobei der immer wieder und sehr laut ein antijüdisches Hasswort ruft.
Zweck der Aufführung ist, dass Gastwirt Schwiete den Bürgermeister und ehemaligen Ortsgruppenführer Strumm aus jenem Haus klagen will, das einst seinem Onkel Sami gehörte, der in den Tod getrieben wurde. Schwiete – so stellt sich heraus – ist nicht nur Gastwirt, sondern auch einziger Überlebender seiner jüdischen Familie.
Die Szene tut weh, vor allem, weil es sich genauso einst in deutschen Straßen abgespielt hat. Ähnlich schmerzt und erschreckt es jedes Mal, wenn die N-Wörter fallen. Die Serie warnt zwar vor jeder Folge mit ihrem Vortext. Doch ist, sobald eines dieser Wörter gesprochen wird, für eine Sekunde der Hass anwesend und schaut als Teil der Erzählung vital aus dem TV-Bild. Eindringlicher geht es nicht.
Ein Land hinter dem Regenbogen
Judenfeindlichkeit und Rassismus sind Synonyme, das ist das Credo dieses Films. Wer sich über das eine empört, muss sich auch über das andere empören. Sonst ist die Humanität so scheinheilig wie die des Colonels McCoy, der für die jüdischen Soldaten einsteht, aber die Schwarzen ausgrenzt und notfalls sterben lassen würde.
Dass es Liebespaare wie Marie und George gegeben hat, denen nur die DDR als Lebensort blieb, krempelt das historische Bild vom „Unrechtsstaat“, wie es im Westen seit dem Mauerfall unverdrossen weitergemalt wird, gründlich um. Das Ideal eines Landes „hinter dem Regenbogen“, wie Regisseur Dror Zahavi es nennt, gab es damals wirklich nur in der DDR.
Im Interview sagt Zahavi weiter: „Das einzige Land der damaligen Zeit, das vom Geist her wenigstens das versprochen hat – sprich: Gleichberechtigung für alle Menschen, Freiheit von Ausbeutung des Menschen durch einen anderen Menschen – war der Osten, war Ostberlin.“ Als Beleg dafür wird die Serie in der Mediathek noch von einer Dokumentation flankiert, die von echten Paaren mit genau diesem Fluchtpunkt berichtet.
„Ein Hauch von Amerika“ ist deshalb in der Medienlandschaft so wichtig, weil erstmals das Dilemma der rassistischen USA in der Rolle als Befreier vom rassistischen Nazideutschland erzählerisch breit aufgerollt wird. Dass eine solche TV-Serie heute möglich ist, könnte sogar auf das Ende des Kalten Krieges deuten.
Wenn … nun ja, wenn er nicht immer wieder aufleben würde. In einer seiner jüngsten Reden wies der amtierende US-Präsident Joe Biden angesichts des Ukrainekrieges darauf, dass die USA den Kampf gegen die kommunistischen Staaten geschafft hätten, sie würden auch den Kampf gegen das russische Regime gewinnen. Da war er wieder: ein alter Kalter Krieger.
Die TV-Miniserie „Ein Hauch von Amerika“
noch bis 6. September in der ARD-Mediathek
Deutschland 2021
Regie: Dror Zahavi
Angelika Nguyen wuchs in der DDR auf, absolvierte ein Filmwissenschaftsstudium in Potsdam-Babelsberg, ist tätig als Autorin und Filmjournalistin. Als Kuratorin im Haus für Demokratie und Menschenrechte verantwortet sie die Filmreihe „Viet-Duc – Geschichten aus der vietnamesisch-deutschen Diaspora“.