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„I love to discuss“ © 2022 Jördis Hirsch

Ostdeutsche Identitätspolitik

Wo die Sonne aufgeht…

Darum Osten heißt auch, über Identität zu sprechen. Doch was heißt das und wo sind die Fallstricke. Ein paar Überlegungen dazu, warum es dabei um mehr geht, als sich mit dem Bestehenden abzufinden.

von Roland Zschächner
Mai:Juni 2022

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…gehört uns nichts

Als Joe Rilla 2007 sein Album „Auferstanden aus Ruinen“ mit dem Track „Der Osten rollt“ rausbrachte, war das ein Aha-Erlebnis für mich. Ach, so kann man den Osten auch sehen, diese Rauheit lieben, sich nicht wegducken, sondern aufrecht bleiben – und nun wird es schwierig – auch irgendwie stolz sein. Die Jugend im Osten verbracht zu haben, ist nun wirklich nichts, worauf man stolz sein könnte. Das nimmt sich schließlich nichts mit jeder anderen durch den Zufall der Geburt zugewiesenen Herkunft.

Doch hat der Osten seine Spuren hinterlassen. Bei mir – und auch bei anderen. Seit der Kindheit wurde mir erzählt, Ostdeutschland sei anders, wenn man von hier kommt, müsse man mehr leisten, um anzukommen und gehört zu werden. Dabei war die Messlatte immer „der Westen“. Erst später habe ich begriffen, dass es diese Bundesrepublik nicht aushalten konnte, dass es jenseits der Mauer Leute gab, die krampfhaft versuchten, den Sozialismus aufzubauen. Das passte nicht ins Konzept, nicht vor 89 und erst recht nicht nach dem Sieg des Kapitalismus.

 

Dann doch lieber mit dem Rad

Rückblickend waren die 1990er ziemlich beängstigend. Wenn man sich umhört, waren sie am Anfang sogar ganz schön schauerlich – also schön, aber auch schauerlich. Alles war neu, niemand kannte sich aus, manche haben das genutzt, ohne Frage. Sie haben ihr Ding gemacht. Andere sind gefallen, einige tief, andere nicht so. Unsicher war es allemal. Diese Unsicherheit, die merkt man manchmal erst ein paar Jahre oder Jahrzehnte später so richtig. Oft haute sie aber auch direkt rein, z. B. wenn der Job auf einmal weg war, und man sich vor den Kindern und der Familie schämte, als sei man selbst Schuld daran.

Diese Erfahrung ist keine individuelle, sondern wurde von vielen in der Generation unserer Eltern geteilt. Irgendwann wurde darüber nicht mehr viel gesprochen. Aber im Hinterkopf blieb es trotzdem. Jetzt, wo das Thema wiederkommt, kommen auch die Erinnerungen zurück. Doch nicht nur das. Da gibt es einen ganzen Rucksack, den uns unsere Alten aus den 90ern und auch der Zeit davor gepackt haben. Darin können wir kramen und feststellen: Oh, diese Erfahrungen habe ja nicht nur ich gemacht, über die können wir gemeinsam reden.

Und dann gibt es ja noch das ganze eigene Erleben. Wenn man abends mit einem mulmigen Gefühl in die Straßenbahn steigt, weil da auch wieder die Faschos drin sind und das sehr unangenehm werden kann. Da fährt man lieber Fahrrad. Oder, wenn sich im Jugendclub eine Wand von Glatzen aufbaut, weil sie hier jetzt abhängen wollen. Manche schrieben dann später ein Buch darüber oder starteten einen Hashtag, um damit einen Umgang zu finden.

Das können Leute aus dem Westen nicht verstehen, ist mir mal aufgefallen. Für die war 1989/90 „die Wiedervereinigung“. Etwas im Fernsehen und später in der Schule. In ihrem Leben hat sich erst mal nichts geändert, das lief wie die Lindenstraße zunächst einfach so weiter. Kohl steht für mich dafür. In dessen Fresse ist für mich diese Mischung aus Selbstgerechtigkeit und Großmannssucht eingeschrieben. Der passte schon sehr gut in diese abgefuckte Zeit voller Versprechen und Dumpfheit.

 

DDR prägt die Menschen

Später habe ich begriffen, dass die Folgen der – nun ja, sagen wir mal Konterrevolution, dass die Folgen davon im Osten eine kontinuierliche Abfolge von Zerstörungen waren. Kaputt war das Soziale, das Kulturelle, die Wirtschaft – man kann auch sagen, das ganze Leben. Zukunft gab es nicht mehr und das sollte wohl auch so sein. Im Rückblick wird dann klar: Der Osten wurde kolonisiert. Das begreift man erst mal gar nicht, weil das Wort Kolonie weit weg zu seien scheint. Aber dann passt es trotzdem. Und dann immer der Vergleich mit dem Westen. Der Blick geht rüber, und immer unterliegt man. Diese Scham ist da, auch wenn man sich seines Dialekts entledigt.

Warum ist das wichtig? Weil daraus etwas entsteht, das man ostdeutsche Identität nennen kann. Die gibt es aber nicht in der Einzahl, sondern nur im Plural. Für mich speisen sich diese aus drei Quellen: Erstens, den Erfahrungen, die in der DDR gemacht und später durch Eltern und Umwelt tradiert wurden; zweitens, aus der Zeit, als die DDR dem Kapitalismus Platz machen musste, und drittens, die anschließende und bis heute andauernde Kolonisierung.

Das erste ist wichtig, denn deswegen wissen wir, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Vieles, was über diese Zeit erzählt wird, ist vor allem Wessi-Gelaber, um ihr Treiben seit 89 im Osten zu rechtfertigen. Wir wissen, dass Sozialismus schon irgendwie machbar ist, aber dass der halt auch nicht nur eine Sache von Wollen und ZK-Beschlüssen ist, sondern man schon die Menschen machen lassen muss, sonst geht’s kaputt und eine gute Idee wird mit autoritärem Gebaren in ihr Gegenteil verkehrt. Nichtsdestotrotz wurden die Menschen im Osten durch die 40 Jahre DDR ziemlich lang geprägt – bis heute.

Ostlerinnen und Ostler – wohlgemerkt nicht Ossis, wie die Wessis sagen – sind nicht per se bessere Menschen. Sie sind aber mit anderen Dingen groß geworden und dadurch auch anders geprägt; sie haben andere Werte, die manchmal mit der Kolonisierung ziemlich vor den Hund gekommen sind. Und da kommen dann noch die rechten Strategen ins Spiel. Ob sie nun Kühnen, Höcke oder Biedenkopf heißen, sie nutzen die vorgefundene Angst, die Enttäuschung und Wut für ihre Zwecke. Das kann nichts entschuldigen, doch ein wenig erklären.

 

Wer hat, der bestimmt

Solidarität und Zusammenhalt sind deutsch-national gewendet. Auf einmal soll man mit dem Wessi-Chef in einem Boot sitzen. Das sei so wegen des Standorts, heißt das dann, weil der sehr wichtig sein soll. Das passt super mit dem Rassismus zusammen. Den gab es schon vorher, aber er passt auch sehr gut zum großen Deutschland. Während Zehntausende für die Abschaffung des Paragrafen 218 oder für ihre Fabriken auf die Straße gehen und damit nichts erreichen, wird der Fascho-Mob von Lichtenhagen genutzt, um das Recht auf Asyl zu beseitigen.

Benachteiligung, Entmachtung und Abwertung sind die Erfahrungen vieler Ostler:innen. Heutzutage bedeutet dies, es wird mehr gearbeitet, der Lohn ist dagegen niedriger als im goldenen Westen. Deswegen ist die Rente trotz der vielen Arbeit geringer. Wo der Lohn zum Überleben nicht ausreicht, wird durch Hartz IV aufgestockt, was auch nur wieder bedeutet, das eigene Leben unter das Diktat einer Behörde (mit Sitz in Nürnberg) zu stellen. Wer kann, haut also ab. Warum soll ich in Gera bleiben, wenn es da für mich keinen Blumentopf zu gewinnen gibt?

Hinzukommt, dass die meisten Firmen im Osten Wessis gehören. So ist es auch mit vielen Häusern, aber auch Feldern und Wäldern. Die Junker sind zurück, das Nachsehen haben die Bäuer:innen vor Ort. Ein Blick an die Hochschulen, in die Ämter und Redaktionen zeigt: Dort haben die Wessis ebenso wie in der Politik das Sagen. Das heißt nicht, dass es besser wäre, wenn Ostler:innen am Ruder wären. Es ist vielmehr ein dezenter Hinweis, einen Blick darauf zu werfen, wer wo wie das Sagen hat. Das hilft ungemein, um zu verstehen, was zwischen Ostsee und Thüringer Wald so alles passiert.

Früher gab es mal die PDS, die war so was wie die Stimme des Ostens. Seitdem die Partei nicht mehr weiß, was sie will und für wen sie überhaupt da ist, punktet die AfD bei den Wahlen. Im Westen wird damit das Bild des „anderen“ rechten Ostens gut bedient. Was ist denn da los, in den vor 30 Jahren so günstig erworbenen Gebieten, fragt man sich in Hamburg und dem anderen Frankfurt. Man hat doch mit dem Soli alles so schön hergerichtet. Die Fassaden sind nun schön bunt, aber das Kreuz wird am falschen Fleck gemacht.

 

Ein Staat für die Reichen

Was läuft da schief? Liberale Akademiker:innen geben auf die Frage beflissentlich Auskunft. Ostdeutsche Identität heißt das Schlagwort. Ich finde mich darin schon irgendwie wieder, aber mit der vorgeschlagenen Lösung kann ich nichts anfangen. Sie wollen mehr beteiligt werden. Ganz so, als ob sich was ändern würde, wenn es mehr Ostakademiker:innen an den entscheidenden Stellen gäbe. Das erinnert dann an ähnlich hoffnungsvolle Erzählungen des bürgerlichen Feminismus oder verschiedener Diversity-Debatten.

Nur: Die weißen westdeutschen Eliten wollen ihre Macht nicht so recht abgeben. Klar, können ein paar Posten durch Quoten besetzt werden; wem aber was gehört, bleibt, wie es war und wie es ist. Da bleibt die Mehrheit im Osten ebenso außen vor, ebenso wie migrantisierte Menschen. Das Sagen hat, wem viel gehört. Der Staat ist gemacht für die Quandts, Flicks oder wie sie alle hießen, die bisher immer noch reicher wurden.

Privilegien sind das eine, das andere ist dieser bettelnde Appell an die Herrschenden, ihre Privilegien abzugeben. Die Forderung ist nichts weniger als ein hilfloser, moralischer Ersatz, dafür zu kämpfen, dass es keine Privilegien mehr gibt. Es geht also um alles – oder anders gesagt, es geht um Sozialismus.

 

Bündnisse schließen

Ostdeutsche Identitätspolitik ist meines Erachtens kein Selbstzweck, sondern Teil einer politischen Auseinandersetzung. Es geht ums Bewusstsein im Alltag und im politischen Kampf. Darüber, dass wir eine gemeinsame sozialistische Geschichte haben, dass wir im Kapitalismus einen gemeinsamen Feind haben und dass es Ideen gibt, die es wert sind, verteidigt zu werden. Wohlgemerkt, ohne die Unzulänglichkeiten der DDR zu beschönigen.

Eine fortschrittliche ostdeutsche Identitätspolitik, die sich nicht in Heimat und Untertanengeist ergibt, setzt etwas voraus, das nicht durch sie geschaffen werden kann: den Klassenkampf von unten. Das heißt dann auch, sich nicht mit den Krümeln zufriedenzugeben, sich nicht abzufinden mit dem geknechten Dasein und die Hoffnung auf Westpakete über Bord zu werfen. Oder anders gesagt: Vielleicht ist es an der Zeit, sich mit denen zusammenzuschließen, die im Sozialismus mehr zu gewinnen haben, als ihnen der Kapitalismus jemals geben kann.

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Roland Zschächner kam über Dresden nach Gera und anschließend nach Berlin. Dort lebt er und versucht, so wenig wie möglich zu arbeiten. Dass das nicht immer gelingt, ist für ihn Ansporn, die Verhältnisse zu ändern. Er ist Teil der Ostjournal-Redaktion.

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