© Sophia Hirsch, Prolog
Ostidentitäten
Post-Ost: Wo kommen wir her – wo wollen wir hin?
Zu Potential und Problematik der Kategorie „Post-Ost“ wurden schon viele Worte zu Papier gebracht, Instagram-Kacheln gestaltet, Podcasts aufgenommen. Gefühlt seit Tag Eins ist die Selbstbezeichnung mit der Frage verknüpft, ob dieser „strategische Essentialismus“ – das Zusammenfassen von Menschen unter einer Identitätskategorie zum Überkommen ihrer Benachteiligung – nicht gerade das, wogegen man ankämpfen will, nur verstärkt. Das Argument: Eine Gleichmachung östlicher Lebenswelten aus dem Blick des hegemonialen „Westen“ nützt doch gerade denen, die im nicht-hegemonialen, subalternen „Osten“ historisch das Sagen haben und auch an einer Auflösung von partikularen Identitäten zugunsten einer großen Identität interessiert sind, heißt: Russland.
von Anna Koemets
Januar 2025
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Sichtbar unsichtbar
De Facto gibt es die Kategorie „Post-Ost“ im deutschsprachigen Raum nun aber. Veranstaltungen, Referent*innen und ganze Orga‘s operieren unter diesem Schirmbegriff und können zaghaft anfangen, Themen zu setzen. Und das scheint bitter nötig. Im Bereich der Soziologie z.B. wurde kürzlich festgestellt, dass sich von 1995 bis 2015 gerade einmal 29 von 2.562 veröffentlichten Aufsätzen in den vier prominentesten deutschen Zeitschriften der Soziologie – das sind 1,13% – mit dem Thema Osteuropa beschäftigen.[1] Um die Auseinandersetzung mit der eigenen DDR-Geschichte ist es kein Deut besser gestellt. Analog zur starken inhaltlichen Orientierung links-aktivistischer Diskurse an US-Kämpfen, wird dieses Manko auch in der Forschung u.a. mit einer Orientierung an US-Themen begründet. Auch die modernitätstheoretische Annahme, dass sich „der Osten“ schon sukzessive an die westliche Norm anpassen wird, wenn man ihm nur Zeit und Geld gibt, spielt hier eine Rolle. Osteuropa-Institute und Sektionen werden abgebaut oder zu „Europasektionen“ umgestaltet. Wo soll das Problem liegen? Es sind ja jetzt auch schon ein paar Jahrzehnte ins Land gegangen – aka. „kommt doch bitte endlich klar, jetzt!“ Erst in den letzten zwei Jahren scheint etwas ins Wanken zu geraten – ob durch die stärkere Auseinandersetzung mit osteuropäischen Ländern durch den Fokus auf die Ukraine und ihrem Unterschied zu Russland (news für erschreckend viele Menschen) im Zuge des russischen Angriffskriegs, oder mit dem Unterschied zwischen Ost und West, z.B. durch die erneute Auseinandersetzung mit ostdeutschen Kontinuitäten in Bezug auf die hohe Zustimmung zur AfD.[2] Sowohl Aktivist*innen als auch Intellektuelle mit Fokus „Ost“ ringen nun also in ihren jeweiligen Sphären, und stets verbunden mit der Hoffnung auf Überschreitung dieser Sphären, um Anerkennung. Nach Jahrzehnten der Unsichtbarmachung von Unterschieden und Eigenheiten heißt das oft: Anerkennung von Differenz.
Metalltüren sind Interpretationssache
Das Bedürfnis nach Anerkennung schmeckt für mich nach Gewürzgurken und Borscht, funkelt wie die bunte Lichterkette mit Disco-Funktion auf der silbernen Plastiktanne meiner Großeltern und hört sich an wie das wohlige, eiserne Piepen der sich öffnenden Metalltür in unserem alten Wohnblock. Mein Bedürfnis nach Anerkennung ist das Bedürfnis nach einem Raum, in dem ich meiner Sehnsucht nach alle diesen Dingen freien Lauf lassen kann und andere Leute einstimmen oder nachfragen, anstatt die Stirn zu runzeln oder gar nicht erst auf die Idee zu kommen, dass nicht alle in der Runde bei der Rede von Grünkohl und Kika mitfühlen. Wie aber schmeckt, funkelt, klingt Anerkennung für jene, die in den Podcasts und Essays, die wir produzieren, nicht zu Wort kommen? Ich könnte jetzt auf den hinter den Türen des Biohofs ausgebeuteten Rumänen, den polnischen LKW Fahrer verweisen – und wär damit doch kein Stück besser. Denn, dass auf die Heterogenität und ungleiche Machtverteilung der Gruppe, für deren Anerkennung man sich einsetzt, verwiesen wird, ist kaum etwas Neues. Die Frage ist, findet sie wirklich mit dem Ziel des Abbaus dieser Hierarchien statt? Was bräuchte es hierfür? Würde ein Verweis womöglich ganz anders verlaufen und v.a. andere Themen in den Fokus nehmen wenn er nicht dazu dienen würde, die Legitimation der eigenen Sprechfähigkeit moralisch zu untermauern sondern die der angeführten Anderen auszubauen? Damit unterscheiden wir uns eigentlich kaum von anderen „communities“, in denen die einen reden und die anderen schweigend den Kopf schütteln; sich von jenen, die öffentlichkeitswirksam ihre Stimme vertreten wenig gesehen und gehört fühlen. Die Bedürfnisse einer gesamten Gruppe definieren zu dürfen, ihre Interpretation zum Verhalten und Verhandeln der Politik frei zu geben, ist Macht.[3] An ihrer Zerschlagung sollten wir doch eigentlich interessiert sein – oder?
Eine der Fragen, die sich einem hier aufdrängt, ist u.a.: wenn die Einen doch im Erleben scheinbar so wenig mit den Anderen gemein haben, warum überhaupt auf dieselbe Identitätskategorie zurückgreifen? Eine Antwort könnte lauten: zur Wiederaneignung eines Identitätsmerkmals, von dem man sich zunehmend distanziert hat – ob durch sozialen Aufstieg, Migration oder beides. Für meine Großcousine schmeckt Anerkennung nach der Pasta einer westlichen Restaurantkette, die endlich auch im Baltikum die Türen öffnet, funkelt wie die Scheinwerfer eines Flugzeugs, das sie weit, weit weg von zu Hause bringt, und klingt wie wirklich alles aber nicht wie das hässliche, kalte Piepen der Metalltür im tristen Wohnblock. Statt Anerkennung von Differenz, eine Anerkennung von Gleichheit, Gleichwertigkeit. Und da sitzen wir dann ein Mal im Jahr, werden verlegen über diese Wucht, mit der zwei absolut widersprüchliche Gefühle von Nähe und Distanz sich zwischen uns ausbreiten, und reden schließlich über mein Studium, ihren Job, meine WG, ihr Eheleben, und wie die Pasta schmeckt.
Eine weitere eher desillusionierende Antwort, was diese künstliche Homogenisierung soll: Die Heterogenität der Gruppe, für die wir sprechen wollen, ist uns so schmerzlich bewusst, dass es leichter erscheint, sich mit den paar vereinzelt ähnlich Denkenden auszutauschen oder gar an etablierte externe Andere zu wenden, als für die Sprechfähigkeit anderer Gruppenmitglieder einzutreten. Für Letzteres braucht es Vertrauen, und das ist nicht vorhanden. Aus guten Gründen. Natürlich hätte ich lieber die Deutungshoheit darüber, was eine postsowjetische „community“ in Deutschland grad braucht, als diese meinem russlandaffinen Opa oder meiner neoliberalen Tante zu überlassen. Autoritär ist es trotzdem. Und festigen tut es im Zweifel weniger die Anerkennung einer Gruppe im Gesamten als die Anerkennung eines Selbst als Sprachrohr für diese Gruppe, und damit entsprechend auch die Hierarchien innerhalb dieser Gruppe. Gleichzeitig ist mit den neuen Diskursfeldern wenigstens ein Rückgang der ewigen Vormachtstellung russischer Deutungen des östlichen Raums festzustellen – ein Schritt in Richtung „partizipatorischer Parität“, heißt: gleichwertiger Teilhabe innerhalb der jeweiligen Gruppe im Prozess ihrer Bedürfnisformulierung – laut Fraser[4] eine maßgebliche Anforderung an die Rechtmäßigkeit von Anerkennungsansprüchen.
Eine Identitätspolitik, die Türen öffnet, statt doppelt hinter sich abzuschließen
Und dennoch ist dieser Russlandfokus bei Weitem nicht die einzige hegemoniale Machtachse innerhalb unserer nicht-hegemonialen Gruppe, von der die Rede sein kann. Welche diskursiven Vereinfachungen werden z.B. durch eine einfache (und natürlich überhaupt nicht einfache) Erweiterung der Kolonialismusdebatte um das Thema „Ost“ eher gestützt als aufgebrochen? Wie schlagen diese sich in materielle Benachteiligungen welcher Gruppen um? Während z.B. für einen vermehrten Einschluss des Themas „Ost“ in die soziologische Forschung festgestellt wurde, dass „die laufende Diskussion […] in mehreren Hinsichten anschlussfähig an bestehende Dichotomisierungen und diskursive Strukturen [ist]“, und „der bisher dominante Diskurs […] jenseits der Aufmerksamkeit [hier für das Thema Ukraine] keine Veränderungen der hier kritisierten Strukturen der Sozialwissenschaften erforderlich [macht]“ (Schlichte, S. 422), würden durch eine „einfache“ Eingliederung über den Marker der Kultur alle bekannten Fallstricke postkolonialer Diskurse reproduziert[5] – und das auf Kosten von Themen, die in einem so konstruierten postmodernen, dichotomen Wissensnetzwerk von „europäisch/westliche Hegemonie vs. süd/östliche Subalterne“ hintenüberfallen. Themen und Identitäten, die gerade beim Thema Ost, gerade aus deutscher Perspektive, von hoher Relevanz sind. Um das Kind beim Namen zu nennen – neben dem Thema Klasse auch das Thema Antisemitismus.
Gerade zu Anfang der aktivistischen Mehr-Berücksichtigung des postsowjetischen Raums habe ich mich oft gefragt, wo es hingeht. Im deutschsprachigen Diskurs hatte ich durch die vereinzelte Auseinandersetzung mit dem kolonialen Blick Richtung Ost, sowie durch die offensichtlichere Verstrickung von Antislawismus und Antisemitismus, durchaus die Hoffnung, dass eine neue Art der Identitätspolitik tatsächlich Türen öffnet, statt gatekeeping zu betreiben. Aber die Orientierung linker Diskurse an internationalen Ausrichtungen bleibt, und ist bei aller Rede von „internationaler Solidarität“ manchmal gerade durch die Unsichtbarmachung von Komplexität ein Problem. So schien es gerade im nicht-deutschsprachig „westlichen“ Diskurs z.B. weitaus weniger um Aushandlungen von Ungleichheiten untereinander zu gehen – zumindest nicht jenseits der „russisch vs. nicht russisch“ Achse anhand von einer bereits erkämpften Denkschablone des Kolonialismus.
Kurz: Vor dem Hintergrund dieser bereits existierenden Anerkennungslogik kann ich den Impuls verstehen, auf eine Erweiterung des de-kolonialen, antirassistischen Blicks zu pochen, sowohl im Hinblick auf koloniale Dynamiken innerhalb der alten Sowjetunion mit Machtzentrum Moskau als auch zwischen Ost und West. So sehr ich mich aber über diese akademische und aktivistische Mehr-Berücksichtigung des Themas „Ost“ freue, ja selbst davon profitiere, habe ich gleichzeitig Angst, dass sie, sofern sie sich auf die bestehenden dichotomen Kategorien verlässt, ihre Anwendung weiter legitimiert – und damit schließlich auch die Nicht-Bearbeitung aller Themen, die aus dieser Logik herausfallen. Ein Anfang könnte sein, keine Verkürzungen im „Wo kommen wir her?“ hinzunehmen, sich von der Illusion zu lösen, es ließe sich mit einem „Wo komme ich her?“ beantworten. Vor allem aber sollte es in beiden Fällen das „Wo wollen wir hin?“ nicht überlagern. Viele Akteure leisten hier bereits wertvolle Arbeit, und machen neben Hoffnung auch Mut, mitzumachen. Was bleibt, ist die Frage danach, wie wichtig das „Wo kommen wir her?“ für das „Wo wollen wir hin?“ überhaupt sein sollte.
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[1] Klaus Schlichte (2023): Indien gibt es nicht. Die Vernachlässigung Osteuropas steht für ein größeres Problem der deutschen Sozialwissenschaften. In: “Soziologische Perspektiven zu Osteuropa, Teil 2” der DGS Zeitschrift Soziologie
[2] Steffen Mau (2024): Ungleich vereint.
[3] Fraser, Nancy (2015): Der Kampf um die Bedürfnisse – Entwurf für eine sozialistisch-feministische kritische Theorie der politischen Kultur im Spätkapitalismus. In: Widerspenstige Praktiken – Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 249-283.
[4] Fraser, N. & Honneth, A. (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse.
[5] Ronya Othmann (2022): Die blinden Flecken antirassistischer Diskurse.
Anna Koemets hat ihren Psychologie-Master für ihre Oma zu Ende studiert und ist jetzt stolze Studentin der Soziologie, um endlich ihrer eigentlichen Motivation nachzugehen. In bisherigen Essays verknüpfte sie psychologische Forschung mit soziologischer Theorie und viel, viel anekdotischer Evidenz im Bereich von Politik und Popkultur. Wiederkehrende Themen: Soziale Medien, die Problematik hinter Authentizitätsnormen, inkonsequente Friedensnarrative, oder Antisemitismus und Antislawismus in vermeintlich progressiven Räumen.